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Zustellungen im Ausland – Das Prinzip des doppelten Datums im belgischen und unionalen Recht

Zustellungen im Ausland – Das Prinzip des doppelten Datums im belgischen und unionalen Recht

Rechtsanwalt David Diris / Rechtsreferendarin Sabine Laubenthal

 

Zustellungen gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland können wegen der Grenzüberschreitung(en) eine besondere Herausforderung darstellen. Es besteht jedoch für alle Beteiligten ein Interesse an größtmöglicher Rechtssicherheit auf diesem Gebiet. Zu diesem Zweck hat es kürzlich Änderungen im belgischen Recht gegeben. Auch auf der Ebene des Unionsrechts sind Neuerungen zu verzeichnen. Sie sollen im Folgenden beleuchtet werden.

 

I. Die Änderungen im belgischen Recht

1. Die Neuerungen

Mit Wirkung zum 9. Januar 2023 wurde Artikel 40 Code judiciaire (im Folgenden: Gerichtsgesetzbuch) erweitert,[1] der die Zustellung von Schriftstücken an Personen regelt, die in Belgien weder einen Wohnsitz noch einen Aufenthaltsort haben. Durch die Erweiterung ist das Prinzip des sogenannten „doppelten Datums“ (la double date) gesetzlich festgeschrieben worden. Der erweiterte bzw. neu eingefügte Satz 3 bzw. 4 in Artikel 40 Absatz 1 lautet – frei übersetzt – wie folgt: Satz 3: Die Zustellung gilt gegenüber der Partei, auf deren Antrag zugestellt wurde, als vollzogen, wenn das Schriftstück dem Postdienstleister gegen eine Empfangsbestätigung über die Versendung in der in diesem Artikel vorgesehenen Form übermittelt wird. Satz 4: Das Datum der Zustellung ist gegenüber demjenigen, an welchen sie erfolgt, das Datum, welches dem Tag folgt, an welchem das Schriftstück am Wohnsitz oder, wenn nötig, am Aufenthaltsort der Person vorgelegt wurde (a été présenté / aangeboden werd).[2] Das bedeutet also mit anderen Worten, dass für Absender und Empfänger des Dokuments jeweils ein anderes Datum maßgeblich ist, wenn es darum geht, wann die Zustellung – juristisch gesehen – ausgeführt wurde. Deshalb wird vom „doppelten Datum“ gesprochen. Der Absender muss das Dokument verschicken, um die Zustellung zu bewirken; für den Empfänger gilt als Datum der Zustellung der Tag nach dem Tag, an dem das Dokument vorgelegt wurde (sozusagen: Tag der Präsentation des Dokuments plus eins)[3].

2. Der Begriff der Zustellung

„Zustellung“ bedeutet dabei nach Artikel 40 Gerichtsgesetzbuch, dass ein Gerichtsvollzieher eine Kopie des Schriftstücks durch Einschreiben mit Rückschein bei der Post in Belgien aufgibt. Es ist hilfreich zu wissen, dass das belgische Recht zwischen „signification“ und „notification“ unterscheidet, die in Artikel 32 Gerichtsgesetzbuch definiert werden. Beides wird mit „Zustellung“ ins Deutsche übersetzt. Inhaltlich stellt die „signification“ die Zustellung durch einen Gerichtsvollzieher dar; „notification“ meint die postalische oder elektronische Versendung über den regulären Postweg. Artikel 40 Gerichtsgesetzbuch ist die Spezialnorm für Zustellungen im Ausland, die „signification“ und „notification“ in gewisser Weise kombiniert. Die Norm enthält in den ersten beiden Absätzen sowohl Regelungen für Personen, die im belgischen Ausland einen Wohnsitz oder Aufenthaltsort haben, als auch für diejenigen, die nirgendwo einen Wohnsitz oder Aufenthaltsort haben. Daneben ist eine Zustellung stets persönlich möglich, wenn die Person in Belgien angetroffen wird (Artikel 40 Absatz 3 Gerichtsgesetzbuch).

Auf die Möglichkeit der elektronischen Zustellung geht u.a. Artikel 40 Absatz 1 Gerichtsgesetzbuch ein, und zwar in Satz 2.

3. Zweck der Neuregelung

Welchen Zweck erfüllt die Neuregelung? Aus den Motiven zu der Gesetzesänderung[4] von Artikel 40 Gerichtsgesetzbuch geht ausdrücklich hervor, dass das sogenannte System des „doppelten Datums“ für internationale Zustellungen festgeschrieben werden soll. Die Artikelkommentierung beschreibt, dass dadurch insbesondere die Rechte des Sendungsempfängers im Ausland gestärkt werden sollen. Es wird betont, wie wichtig die Möglichkeit der Kenntnisnahme der Schriftstücke durch die Person ist, an die die Zustellung erfolgt. Ein Richter könne in der Hauptsache nur entscheiden, wenn er sicher gehen kann, dass der Empfänger Kenntnis von den Dokumenten nehmen konnte. Das hatte zuvor schon der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt.[5] Der Vorentwurf zur Änderung des Gerichtsgesetzbuchs enthielt noch eine Regelung dazu, dass die Zustellung gegenüber dem Empfänger am Tag der Übergabe des Schriftstücks selbst als erfolgt gelten soll. Auf Anraten des Conseil d’État wurde diese Regelung dahingehend abgeändert, dass es auf den darauffolgenden Tag ankommt. Durch die Neuregelung besteht fortan mehr Klarheit in Bezug auf die Daten und Fristen, die im Zusammenhang mit Zustellungen im Ausland zu berücksichtigen sind.

4. Rechtslage vor der Gesetzesänderung

Auch vor der Neuregelung galt de facto das gleiche wie seit der Gesetzesänderung.[6] Das liegt daran, dass das Prinzip des doppelten Datums bereits von der Rechtsprechung gebilligt und angewendet worden war. Die Cour de cassation hatte am 21. Dezember 2007[7] entschieden, dass in Bezug auf den Empfänger eines Schriftstücks die Zustellung zum Zeitpunkt des Empfangs des Schriftstücks erfolgt. Die „plus ein Tag“-Regel kam, wie bereits erwähnt, erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens hinzu. Die zitierte Entscheidung betraf eine Zustellung in der Schweiz. Die Schweiz ist – ebenso wie Belgien – an das Übereinkommen über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen gebunden (Haager Zustellungsübereinkommen), sodass dessen Regelungen maßgebend waren. Zum Datum der Zustellung enthält das Haager Zustellungsübereinkommen selbst keine Bestimmung, weshalb die Cour de cassation diese Lücke über das Prinzip des doppelten Datums schloss.[8] Das Übereinkommen ist anwendbar bei Zustellungen zwischen Mitgliedstaaten, die das Übereinkommen unterzeichnet haben, bei zuzustellenden Schriftstücken auf dem Gebiet des Zivil- oder Handelsrechts. Das Kassationsurteil im Zusammenhang mit dem Haager Zustellungsübereinkommen wird auch in der Gesetzesbegründung aufgegriffen.[9] Die nun kodifizierte Regelung des doppelten Datums soll für alle Sachverhalte gelten, nicht nur für die dem Haager Zustellungsübereinkommen unterfallenden.[10]

5. Klarstellungen für den Rechtsverkehr

Die Kodifizierung des Prinzips des doppelten Datums erleichtert den Zugang zur Regelung. Hingewiesen sei außerdem auf Artikel 55 Gerichtsgesetzbuch, der vorsieht, dass Fristen bei nicht in Belgien ansässigen Personen automatisch um eine gewisse Zeitspanne verlängert werden. Für den Fristbeginn ist Artikel 53bis Gerichtsgesetzbuch von Bedeutung, sowohl für rein belgische als auch transnationale Sachverhalte.

 

II. Die Änderungen im Unionsrecht

Auf der Ebene des Rechts der Europäischen Union wurde am 25. November 2020 eine neue Verordnung über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen in den Mitgliedstaaten[11] (im Folgenden: Zustellungs-VO) erlassen. Sie löste die gleichnamige Vorgängerverordnung aus dem Jahr 2007 ab. Die neue Verordnung gilt seit dem 1. Juli 2022. Auf die Zustellungs-VO geht der belgische Gesetzesentwurf samt zugehörigen Erläuterungen zur Änderung von Artikel 40 Gerichtsgesetzbuch zwar nicht ein. Ein gewisser Gleichlauf ist jedoch unübersehbar.

1. Zur Anwendbarkeit der Zustellungs-VO

Verordnungen sind gemäß Artikel 288 Absatz 2 AEUV in allen ihren Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Diese vollumfängliche Bindung an die Vorgaben der Verordnung entfaltet allerdings nur innerhalb ihres Anwendungsbereichs Geltung. Dieser ergibt sich schon aus dem Titel der Zustellung-VO sowie aus Artikel 1 Absatz 1: es geht um gerichtliche und außergerichtliche Schriftstücke, die in Angelegenheiten der Zivil- und Handelssachen zugestellt werden, und zwar nur, wenn es um die Zustellung in anderen Mitgliedstaaten der EU geht. Alle Schriftstücke, die nicht in einem EU-Mitgliedstaat zugestellt werden, sind demnach nicht von der Verordnung umfasst. In diesem Fall ist auf das nationale Recht (in Belgien insbesondere Artikel 40 Gerichtsgesetzbuch), das Haager Zustellungsübereinkommen sowie gegebenenfalls auf bilaterale Absprachen zwischen einzelnen Staaten zurückzugreifen. In ihrem Anwendungsbereich ist die Zustellungs-VO aber unmittelbar anzuwenden. Dabei greifen unions- und nationales Recht ineinander. So enthält die Zustellungs-VO keine materiell-rechtlichen Regelungen darüber, an welchem Datum die Zustellung als erfolgt gilt, sondern lediglich eine Kollisionsnorm.[12] Die Bestimmung des Datums richtet sich also nach den Regelungen des anzuwendenden nationalen Rechts.

2. Das Verfahren nach der Zustellungs-VO

Die Zustellungs-VO verwendet in der französischsprachigen Version die Begriffe „signification“ und „notification“ stets beide nebeneinander; in der deutschsprachigen Version ist an den entsprechenden Stellen allein von „Zustellung“ die Rede. Sie setzt ein sehr formalisiertes Verfahren fest. Ihr Anhang enthält verschiedene Formblätter, die bei der Übermittlung von Schriftstücken zu verwenden sind. Artikel 3 und 4 Zustellungs-VO sehen die Einrichtung von Übermittlungs-, Empfangs- und Zentralstellen durch jeden Mitgliedstaat vor, welche gemäß Artikel 8 Zustellungs-VO verfahren und die Zustellung gemäß Artikel 11 Zustellungs-VO durchführen. Aufgrund des transnationalen Kontextes besonders wichtig sind die Vorgaben in Bezug auf die Sprache der Schriftstücke, die bei Nichteinhaltung nach Artikel 12 Zustellungs-VO zur berechtigten Annahmeverweigerung führen können.

Gemäß Artikel 13 Absatz 1 Zustellungs-VO richtet sich der Tag der Zustellung nach dem Recht des Empfängermitgliedstaats. Artikel 13 Absatz 2 Zustellungs-VO bestimmt, dass in dem Fall, in dem die Zustellung nach dem Recht eines Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist erfolgen muss, gegenüber dem Antragsteller das nach dem Recht dieses Mitgliedstaats maßgebliche Datum als Datum der Zustellung gilt. Damit eröffnet die Zustellungs-VO den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, das System des doppelten Datums zu nutzen, ja unterstützt dies ausdrücklich (siehe auch Erwägungsgrund 27 der Zustellungs-VO). Wie Erwägungsgrund 27 zu entnehmen ist, haben längst nicht alle Mitgliedstaaten dieses Prinzip in ihrem Recht verankert. Ein Anwendungsbeispiel für Artikel 13 Absatz 2 Zustellungs-VO stellt die Hemmung der Verjährung durch Klageerhebung dar.

Artikel 18 Zustellungs-VO stellt es frei, gerichtliche Schriftstücke durch Postdienste per Einschreiben mit Empfangsbestätigung oder ähnlichem Nachweis zustellen zu lassen. Laut Erwägungsgrund 30 gelte nach der Rechtsprechung des EuGH eine Zustellung über Postdienste unter Umständen selbst bei der Übergabe an eine andere erwachsene Person als den Empfänger als bewirkt.

Unter bestimmten Umständen ist eine elektronische Zustellung ebenso möglich (vgl. insbesondere Artikel 6 und 19 Zustellungs-VO).

Der Rechtsanwender findet Informationen über Zustellungen von Schriftstücken in den einzelnen Mitgliedstaaten auf der Webseite des Europäischen Justizportals.[13] Von praktischer Relevanz ist außerdem Artikel 7 Zustellungs-VO, der Unterstützung bei der Ermittlung von Anschriften vorschreibt.

 

III. Fazit

Die neuerlichen Gesetzesänderungen im belgischen Recht sowie im Unionsrecht tragen zur Rechtssicherheit im Bereich von Zustellungen gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke bei. Sie bedeuten eine erleichterte Rechtsanwendung in einem wichtigen Bereich der grenzüberschreitenden Rechtsanwendung.

 

 

[1] Das Änderungsgesetz vom 26.12.2022 trägt den Namen « Loi relative à la mention des voies de recours et portant dispositions diverses en matière judiciaire » – frei übersetzt: Gesetz bezüglich der Einlegung von Rechtsbehelfen und zu verschiedenen Bestimmungen im Gerichtswesen.

[2] Französische Sprachfassung: La signification est réputée accomplie à l'égard de la partie à la requête de laquelle il a été signifié par la remise de l'acte aux services de la poste contre le récépissé de l'envoi dans les formes prévues au présent article. La date de la signification est à l'égard de celui à qui elle est faite, la date qui suit celle à laquelle l'acte a été présenté au domicile ou, le cas échéant, à la résidence de la personne à qui la signification est faite.

[3] Vgl. DE RUYSSCHER, M., Recente wetswijzigingen inzake gerechtelijk recht, P&B 2023, afl. 2, 57.

[4] Gesetzesentwurf: Projet de loi relatif à la mention des voies de recours et portant dispositions diverses en matière judiciaire, Doc 55 3046/001, Chambre des Représentants de Belgique, 6 décembre 2022, abrufbar unter https://www.lachambre.be/FLWB/PDF/55/3046/55K3046001.pdf.

[5] Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, 25.01.2000, 38366/97 u.a. – Miragall Escolando and others/Spain.

[6] Vgl. DE RUYSSCHER, M., Recente wetswijzigingen inzake gerechtelijk recht, P&B 2023, afl. 2, 56.

[7] Cour de cassation, 1er chambre, 21 décembre 2007, arrêt N° C.06.0155.F, abrufbar unter https://juricaf.org/arret/BELGIQUE-COURDECASSATION-20071221-C060155F.

[8] DE WULF, V., Les modes introductifs d’instance et de recours en matière civile, Les modes introductifs d’une demande principale, Chapitre premier : La citation, p. 80 n° 109.

[9] Gesetzesentwurf: Projet de loi relatif à la mention des voies de recours et portant dispositions diverses en matière judiciaire, Doc 55 3046/001, Chambre des Représentants de Belgique, 6 décembre 2022, p. 8, abrufbar unter https://www.lachambre.be/FLWB/PDF/55/3046/55K3046001.pdf.

[10] Gesetzesentwurf: Projet de loi relatif à la mention des voies de recours et portant dispositions diverses en matière judiciaire, Doc 55 3046/001, Chambre des Représentants de Belgique, 6 décembre 2022, p. 8, abrufbar unter https://www.lachambre.be/FLWB/PDF/55/3046/55K3046001.pdf.

[11] Offizielle Bezeichnung: Verordnung (EU) 2020/1784 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2020 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten (Zustellung von Schriftstücken) (Neufassung).

[12] DE WULF, V., Les modes introductifs d’instance et de recours en matière civile, Les modes introductifs d’une demande principale, Chapitre premier : La citation, p. 79 n° 108.

[13] Europäisches Justizportal, Zustellung von Schriftstücken (Neufassung), https://e-justice.europa.eu/38580/DE/serving_documents_recast?BELGIUM&member=1.

 

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